Abi geschafft und jetzt?
Eltern suchen Orientierung
Eine im Auftrag der Vodafone-Stiftung von Allensbach durchgeführte Studie hat bestätigt, was uns Berufs- und Studienberaterinnen schon seit langem bekannt ist:
Nahezu 50 Prozent der Abiturienten wissen nicht, was sie nach dem Abi machen wollen. Sie holen sich Rat bei Freunden und den Eltern.
Eltern wiederum suchen Rat bei den Lehrern.
Die Lehrer fühlen sich überfordert, nun auch noch die Orientierungsberatung der Eltern zu übernehmen.
Offensichtlich handelt es sich wiedermal um ein Passungsproblem, wenn Eltern Orientierungshilfe in Sachen Ausbildung ihrer Kinder bei den Lehrern suchen; denn diese sind ja in erster Linie für die schulische Bildung zuständig. Diese sind damit aber überfordert; denn sie sind nicht dafür ausgebildet und haben mit den vielfältigen Aufgaben des Unterrichtens genug zu tun.
Zwar gibt es an den Schulen Beratungslehrer und Schullaufbahnberater. Jedoch erstreckt sich ihr Wirkungskreis bis zum Ende der Mittelstufe oder Sekundarstufe I.
Seit langem gibt es eine Vereinbarung zwischen der Kultusministerkonferenz, den Schulen und der Agentur für Arbeit, dass die Berufsberater/innen der Agentur für Arbeit an Schulen orientieren und informieren. Seit der Berufs- und Studienorientierung im Rahmen des Projektseminars im G8 wurde die Zusammenarbeit zwischen Schule und Berufsberatung der Arbeitsagenturen noch verstärkt.
Jetzt beschäftigen sich die künftigen Abiturienten und Abiturientinnen zwar kraft Lehrplan mit Ausbildung und Beruf, werden zum Besuch von Info-Messen verdonnert, aber ihrer individuellen Berufs- und Studienwahl kommen sie damit auch nicht näher.
Warum nicht?
Weil sie zu diesem Zeitpunkt anderes im Sinn haben, nämlich erst einmal das Abi schaffen und ihren Platz in der Peer behaupten. Außerdem sind sie ein Jahr jünger, haben gefühlt ein Jahr gewonnen. Andererseits fehlt dieses Jahr vielleicht auch, um in der heutigen komplexen Welt den eigenen Weg vorzubereiten.
Ein neuer Zeitgeist
Na ja, nicht mehr ganz neu – Diese Erscheinung ist vielleicht auch dem „Jugendwahn“ geschuldet – Zu Beginn meiner Tätigkeit als ABI-Beraterin hatte ich das Wehklagen aus der Wirtschaft ständig in den Ohren, die deutschen Uniabsolventen seien zu alt.
Jetzt sind sie vielleicht zu jung, zumindest was Verantwortung für gewichtige Entscheidungen anbelangt. Gelegentlich sind unsere Abiturienten nicht mal volljährig und benötigen bei der Immatrikulation die Unterschrift der Eltern. Der Ablösungsprozess von den Eltern hat in der Regel noch nicht begonnen.
Also fühlen sich die Eltern mitverantwortlich für die berufliche Entscheidung ihrer Kinder und übernehmen die Orientierungsaufgabe, allein oder in Begleitung der Betroffenen. Das hätte ich als Jugendliche niemals geduldet bzw. hätte ich mich dafür geschämt.
Als spätere Berufsberaterin hatte ich mich ständig mit der Frage zu beschäftigen:
Wann ist der richtige Zeitpunkt zwischen Klausurterminen, Sport- und Musikveranstaltungen sowie Info-Messen, um die Schülerinnen und Schüler wenigstens ein Quäntchen für ihre eigene Berufs- und Studienwahl zu sensibilisieren.
Ich wusste, dass es mir nur gelingt, wenn ich sie innerlich berühre, wenn sie sich betroffen und verstanden fühlen.
Wie kann dies in der Schule bzw. im Klassenzimmer gelingen, wenn vorher oder nachher eine Klausur ansteht oder schon sieben Stunden Unterricht hinter ihnen liegen?
Und wie erreiche ich die Eltern, die von den berufskundlichen Angeboten der Berufsberatung an der Schule oder im Berufsinformationszentrum häufig kaum etwas mitbekommen, weil die Information nicht bis zu ihnen gelangt?
Die Elternabende, die ich als Abi-Beraterin bei der Agentur für Arbeit München an Schulen angeboten habe, wurden nur sehr spärlich von Eltern wahrgenommen. Zwar waren die anwesenden Eltern mit der Information sehr zufrieden, dennoch galt ihr Hauptinteresse meist dem Gespräch mit dem ebenfalls anwesenden Lehrer und den nächsten Schulaktivitäten. Na klar, auch ihnen liegt jetzt der gute Abi-Schnitt ihres Sohnes oder ihrer Tochter am Herzen. Und selbst wenn sie ihren Sohn oder ihre Tochter anregen, doch mal die Berufsberatung aufzusuchen, „Kost’ ja nix, schad’ ja nix“, wollen sie doch nicht zum Jagen tragen.
Also informieren sich die akademisch gebildeten Eltern selbst und greifen auf eigene Erfahrung zurück.
Aber was ist mit den Eltern, die das nicht leisten können?
Sie holen sich eben Rat bei den Lehrern, die nur bedingt weiterhelfen können.
Bleibt also die Frage offen:
Wie erreicht man Eltern und Schüler zum richtigen Zeitpunkt und wo erreicht man sie, wenn Schule zwar ein geeigneter Treffpunkt ist, aber das Interesse während der Verweildauer der Betroffenen dort den Noten und dem Schulabschluss und nicht der Ausbildung, dem Studium und dem Beruf gilt?
Am Informationsangebot liegt es doch nicht wirklich.
Natürlich braucht man inhaltliche Information über Berufe und deren Zugangsmöglichkeiten wenn man eine Entscheidung diesbezüglich treffen will.
Zum Beispiel: http://www.abi.de
Aber diese Informationsmenge muss gefiltert, strukturiert und gewichtet werden für die jeweils individuellen Wünsche und Ziele, sofern diese überhaupt schon ans Licht des Bewusstseins gelangt sind.
Wenn nicht, müssen diese Schätze erst noch gehoben werden. Danach müssen sie im individuellen Kontext auf ihre Umsetzbarkeit in der Realität überprüft werden.
Da stellt sich doch die Frage, ob Eltern für diesen Prozess die geeigneten Berater sind.
Natürlich ist es hilfreich und wichtig, dass Eltern unterstützen und begleiten. Aber wo verläuft die Grenze, wo die elterliche Unterstützung nicht mehr ausreicht und professionelle Beratung angezeigt ist, weil die Arbeitswelt so komplex und die Erwartungen auf persönlichen Erfolg so hoch sind, dass es Berufswissen, und Prozesskunst braucht, um zu einer tragfähigen Entscheidung hinzuführen. Außerdem profitieren vom elterlichen Wissen wiederum vorwiegend die Kinder aus akademisch geprägten Familien.
Tja, da ist guter Rat tatsächlich teuer. Mir scheint allerdings, dass Rat im Sinne von „sich mit jemandem beraten“ gar nicht besonders gefragt ist, denn das erfordert Eigenverantwortung, Selbstreflexion und nicht zuletzt auch finanzielle Investition, und nicht schnelle Rezepte, die unter Zeitdruck zwischen Juni und Juli eines jeden Jahres dauerhafte Lösungen ohne Risiko bringen sollen.
Wenn nur 3 Prozent der Eltern von sozial benachteiligten Kindern sich im Internet informieren, wo Information noch weitgehend kostenfrei zur Verfügung steht, dann können wir Berater entweder gleich die Flinte ins Korn werfen. Oder wir arbeiten gemeinsam an Lösungen, um das Web zum Ort des Lernens und der Begegnung zu machen.
Ohne professionelle unabhängige und auch kostengünstige Beratung wird es meiner Meinung nach aber nicht mehr gehen, wenn die berufliche Zukunft unserer Kinder nicht wie beim Rattenfänger zu Hameln ausgehen soll.
Ich freue mich über Ihre Ideen und Diskussionsbeiträge im Kommentar.